Gemeindegründer Scazzero
«Ich hatte die Liebe aus dem Blick verloren»
Kraftvoll leiten, ohne sich zu verausgaben und ohne dass das Privatleben leidet – wie geht das? Aufgrund seiner langjährigen Führungserfahrung sagt Peter Scazzero: Indem man sein Inneres, seine Emotionen und die Beziehung zu Jesus genauso pflegt wie die eigenen Führungskompetenzen.
idea Spektrum: Pete Scazzero, seit 28 Jahren arbeiten Sie in Aufbau und Leitung einer Gemeinde. Wie geht es Ihnen heute?
Pete Scazzero: Genau genommen sind es jetzt 30 Jahre in der Gemeindeleitung und drei Jahre Mitarbeit bei Inter Varsity Christian Fellowship, wo ich nach meinem Studienabschluss in der Betreuung und im Aufbau von christlichen Studentengruppen gearbeitet habe. Ja, das klingt wie eine lange Zeit. Geri und mir geht es gut und wir geniessen es sehr, dass ich nach 26 Jahren nicht mehr der Senior Pastor von New Life Fellowship bin. Derzeit arbeite ich in der Gemeinde noch mit der Hälfte meiner Zeit als Lehrpastor und als Mentor für junge Leiter. Die andere Hälfte meiner Zeit gehört der Verbreitung von Emotionally Healthy Spirituality (Emotional gesunde Spiritualität) weltweit.
Blicken wir zurück. Sie gründeten in New York eine neue Gemeinde, die New Life Fellowship Church. Diese wuchs in sechs Jahren auf 400 Besucher im englischen Gottesdienst und 250 im spanischen – bis Ihre Frau Geri ausstieg. Was passierte dann?
Wie man sich vorstellen kann, war das in vielerlei Hinsicht eine schwierige Zeit. Für mich war es der absolute Tiefpunkt – demütigend, entlarvend, frustrierend. Unsere Ehe war in Gefahr. Ich war wütend, aber es gab nicht viele Orte oder Menschen, an die ich mich wenden konnte. Ausser Gott. Ich erklärte mich bereit, für eine Woche eine Beratung durch empfohlene christliche Seelsorger in Anspruch zu nehmen. Und dort ist Gott mir oder besser uns begegnet. Die Wahrheit – ja, sie hat uns zuerst gar nicht gefallen, aber letztlich hat sie uns befreit. Heute sage ich oft, dass Geri aus der Gemeinde ausgetreten ist, war der grösste Liebesbeweis, den ich je von ihr bekommen habe. Denn nur deswegen waren die letzten 21 Jahre die besten Jahre meines Lebens – als Mensch, als Christ, als Vater, Ehemann, Pastor. Und natürlich hat Gott diesen Tiefpunkt genutzt, um auch unsere Gemeinde zu verändern und letztlich unsere Arbeit «Emotional gesunde Spiritualität» entstehen zu lassen.
Sie schreiben: «Ich war auf dem emotionalen Entwicklungsstand eines Säuglings, versuchte aber, andere zu Müttern und Vätern im Glauben heranzubilden.» Woran haben Sie das erkannt?
Paulus sagt, dass der Massstab für unsere Reife die Liebe ist (1. Korinther, Kapitel 13). Und Jesus sagt dasselbe. Woran erkennt man sie? Unter anderem daran, dass jemand zugänglich ist, dass jemand auch Scheitern eingestehen kann und bereit ist, verletzlich zu sein, sanft, freundlich, barmherzig. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Gemeinde aufzubauen, ordentlich zu predigen und das zu sein, was ich für einen «effektiven» Gemeindeleiter hielt. Aber ich hatte etwas so Offensichtliches wie die Liebe aus dem Blick verloren. Meine eigene Frau fühlte sich nicht von mir geliebt – obwohl ich sie liebte. Das ist peinlich. Und auch gegenüber anderen kam die Liebe zu kurz, weil ich viel zu beschäftigt war. In meiner Herkunftsfamilie – wir hatten eine italienische Bäckerei – war es immer um Arbeit und um Produktivität gegangen. Und jetzt war das immer noch wichtig, nur dass ich jetzt für Jesus arbeitete. Aber darüber, wie man ein liebevoller Mensch wird, wurde bei uns nie gesprochen.
Ihr Buch «Glaubensriesen – Seelenzwerge» wurde viel gelesen, auch im deutschsprachigen Raum. Hat Sie das überrascht?
Natürlich. Anfangs dachte ich ja, ich wäre der Einzige, der einzige Leiter, der ein so emotional unausgewogenes Leben führte, und dass nur unser Umfeld hier in New York City (und unsere Pastorenausbildung) so grosse Defizite in unserer Gemeindearbeit aufweisen würde. Als ich «Das Paulusprinzip» und «Glaubensriesen – Seelenzwerge» schrieb, habe ich nicht gedacht, dass es auf so breites Interesse stossen könnte – nicht nur im deutschsprachigen Europa, sondern auch in Asien, Afrika, Lateinamerika, im Nahen Osten und quer durch alle Denominationen. Erst viel später erkannte ich, dass diese Trennung von emotionaler Gesundheit und geistlicher Reife theologische Wurzeln hat, die bis zu Augustinus und darüber hinaus zum Neuplatonismus zurückreichen.
Sie haben damals erkannt, dass Sie nicht nur «Arbeiter Gottes» sind, sondern sein «geliebtes Kind». Die Identität in Christus ist wichtiger als das Tun. Wie verlief diese innere Veränderung hin zu emotionaler Gesundheit?
Ich denke, in gewisser Weise habe ich das bereits sehr früh in meinem Glaubensleben verstanden, aber nicht tief genug. Ich habe es ja anderen gepredigt! Die Frage ist, ob ich es selbst verinnerlicht hatte. Ich würde sagen, ich lerne an diesem Punkt immer noch dazu. Aber 1996, als wir unsere Reise in eine emotional gesunde Spiritualität begannen, war diese Erkenntnis zumindest tief genug in meiner Erfahrung verankert, um tatsächlich Einfluss darauf zu nehmen, wie ich mein Leben führte, wie ich Beziehungen gestaltete, wie ich meine Gemeinde leitete, wie ich mich als Vater und als Ehemann verhielt.
Jetzt legen Sie ein weiteres Buch nach: «Emotional gesund leiten». Sie reden von Ihrer «vierten Bekehrung» und raten Pastoren, Führung konkret zu machen, Schwieriges anzusprechen, Arbeit von Mitarbeitern zu bewerten. Damit wagen Sie sich im Kirchenbereich auf heikles Terrain. Warum tun Sie das
Bis zu diesem Punkt war ich immer wieder frustriert gewesen, weil es so schwer war, eine emotional gesunde Spiritualität für die Erfordernisse einer Leitungsaufgabe fruchtbar zu machen. Wir hatten damals mehr als 20 hauptamtliche Mitarbeiter und eine grosse Gemeinde mit vielen Diensten und einem Arbeitszweig für Nachbarschaftsentwicklung. Ich hatte den Eindruck, die Menschen mit einer tiefen Spiritualität, die ich kannte, waren alle keine Gemeindegründer oder Pioniere von neuen Diensten. Sie waren eher geistliche Begleiter, Professoren, Seelsorger, Autoren oder leiteten Einkehrhäuser. Menschen in Leitungsaufgaben und Gemeindegründer lernten damals vor allem von «Fortune Global 500» oder aus der «Harvard Business Review». Ich kämpfte mit meinen eigenen Schwächen auf diesem Gebiet: mangelnde Integration und mangelnde Integrität. Was mir damals klar wurde, ist Folgendes: Um als Christ eine grössere Organisation mit Integrität zu führen, braucht man eine tiefe innere Verbundenheit mit Jesus und ein hohes Mass an Selbsterkenntnis. Das ist nichts für furchtsame Charaktere! Ich entdeckte, dass das grösste Problem ich selber war, mein eigenes inneres Leben. Es erforderte Mut, Jesus tiefer an meine eigenen Fehler, Unsicherheiten usw. heranzulassen, die erklärten, warum ich kein guter Leiter war. Auch das war anfangs schmerzhaft, aber auf lange Sicht war es höchst heilsam und belebend.
Sie werden für Vorträge in die Schweiz kommen. Was werden Ihre Frau Geri und Sie uns mitbringen?
In unserer Gemeinde leben Menschen aus mehr als 73 Ländern dieser Welt. Mir ist also vollauf bewusst, dass der deutschsprachige Kontext ein anderer ist als bei uns in New York. Aber ich vermute, dass die Probleme im Blick auf Leitungsaufgaben und die Fragen, wie wir Menschen zu einem tief gegründeten Glauben führen können, in gewisser Weise ähnlich sind. Ich freue mich auch darauf, von euch zu lernen, zuzuhören. Ihr habt eine einzigartige und reiche Geschichte; ihr habt der Kirche in der ganzen Welt etwas zu geben. Und ich glaube, ihr schleppt nicht dieselben kulturellen Lasten mit euch herum wie die Kirche in den USA. Gott sei Dank.
Konferenz «geistlich.emotional.reifen»
Pete und Geri Scazzero werden vom 7. bis 8. November 2017 an der Konferenz «geistlich. emotional. reifen.» im Chrischona Campus ihre Erfahrungen weitergeben. Im deutschsprachigen Raum bekannt wurde Pete Scazzero vor allem durch das Buch «Glaubensriesen – Seelenzwerge?» (Brunnen, Giessen). In diesem Sommer erscheint sein neues Werk «Emotional gesund leiten. Was Sie stark macht für Gemeinde und Beruf» (Brunnen Giessen). Die Konferenz wird von Chrischona International und Willow Creek Schweiz veranstaltet.
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Autor: Rolf Höneisen
Quelle: ideaSpektrum Schweiz