Wertbezogenes Unternehmertum
«Die Jungen sind hungrig nach Werten»
Neuntes Stockwerk eines Bürohochhauses an zentraler Lage in Freiburg: In diesen zweckmässig möblierten Räumen mit prächtiger Rundsicht ist seit Sommer 2005 das "Institut for value-based enterprise" (IVE) untergebracht - eine schweizweit einzigartige Initiative. Hans Ulrich Pestalozzi hat das "Institut für wertbezogenes Unternehmertum", so sein deutscher Name, als gemeinnützige Stiftung mit dem Ziel gegründet, Studierenden der Hochschulen und Fachhochschulen zwölfmonatige Praktikumsplätze als Assistenten auf Kaderebene in Firmen zu vermitteln.
Unternehmerischen Geist entwickeln
Dabei sollen sie mit der unternehmerischen Praxis vertraut gemacht und insbesondere Verantwortungsbewusstsein und unternehmerischen Geist entwickeln. Daneben veranstaltet das IVE auch Vorträge mit erfahrenen Unternehmern oder Workshops für Jung-Unternehmer. An der Seite Pestalozzis wirken fünf Studierende als Ressort-Verantwortliche im Institut. Für das IVE-Jahresbudget von 300.000 Franken kommen derzeit Spender auf - die allerdings immer wieder neu zu gewinnen sind.
Die Vorfahren von Hans Ulrich Pestalozzi sind einst aus Italien ausgewandert. Einer von ihnen: der Schweizer Pädagoge und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), dessen Bemühen es nach eigenem Bekunden immer war, "den Menschen zu stärken" und ihn dahin zu bringen, "sich selbst helfen zu können".
Selbständiger Unternehmensanwalt zuerst in Grossbritannien und dann während zwanzig Jahren in Brasilien und schliesslich Chef des weltweit tätigen Handelsunternehmens Bayer International AG: Hans Ulrich Pestalozzi, grossgewachsen mit dem Aussehen eines klassischen Unternehmers, hat durchaus nicht nur eine Vision für wertbezogenes Unternehmertum, sondern auch eine beeindruckende Visitenkarte vorzulegen.
Christliche Werte
Das Missionieren liege ihm fern, aber er sei von den christlichen Werten zutiefst überzeugt und dazu stehe er, sagt Hans Ulrich Pestalozzi. Und erzählt, wie er vor drei Jahren an der Universität Freiburg einen Vortrag zum Thema "Leadership aus der Sicht eines Praktikers" gehalten habe, der unter den Studierenden auf sehr grosses Interesse gestossen sei. Damals hat er festgestellt: "Die Jungen sind hungrig nach Werten." Und damals sei auch die Idee aufgetaucht, den Studierenden in der unternehmerischen Praxis aufzuzeigen, was christliche Werte sind.
Christliche Werte? Wolle ein Unternehmer wirklich nachhaltig und innovativ tätig sein, sagt der Protestant Pestalozzi, so komme er nicht umhin, Grundsätze wie Respekt, Wertschätzung, Vertrauen, Ehrlichkeit, Transparenz oder Disziplin zu befolgen. Es brauche deshalb an der Spitze der Unternehmen wirkliche Führungspersönlichkeiten, die in der Lage seien, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so zu fördern und zu motivieren, dass diese ihre Stärken entfalten könnten und sich deshalb auch wohl fühlten: "Jeder Mensch ist eine einzigartige Schöpfung mit ganz besonderen Talenten, und diese Talente sind seine Stärken, die weiter entwickelt werden müssen."
Jesus förderte den Einzelnen
Jesus habe nicht anders gehandelt: "Er hat seinen Jüngern und überhaupt allen Menschen, denen er begegnet ist, nichts befohlen, sondern einfach durch Fragen und als Vorbild versucht, den Einzelnen richtig zu fördern."
Der heutige Wohlstand in Europa sei durch die abendländische christliche Kultur und ihre (protestantische) Arbeitsethik hervorgebracht worden: "Wir sind mit diesen Werten vertraut, sie sind über Generationen hinweg an uns weitergegeben worden." An sie müsse man sich wieder halten, wenn man erfolgreich wirtschaften wolle.
Von oben nach unten: Unfug
Für groben Unfug hält Pestalozzi die geläufige und an den meisten Wirtschaftsfakultäten immer noch gelehrte "top-down"-Organisationsstruktur für Unternehmen: zuoberst sitzen die Aktionäre und zuunterst die produzierenden Mitarbeiter. Dabei werde nämlich nicht nur die "Schöpfungsordnung" missachtet, sondern einfach auch ein Naturgesetz: Alles wächst von unten nach oben.
Es brauche deshalb eine "tragende" Organisationsstruktur: Den "Boden" eines Unternehmens bilden die Aktionäre, und zuoberst, nach den Mitarbeitern, finden sich die Kunden. Pestalozzi hat auch ein Bild bereit: "Die Kunden einer Firma sind wie die Früchte eines Baumes, und diese Früchte fallen als Dividenden auf den Boden der Aktionäre - es ist dies wie der Kreislauf unseres Schöpfungsgesetzes."
Entscheidend: Team-Arbeit
Und schliesslich hält der IVE-Gründer Team-Arbeit für einen entscheidend wichtigen Faktor in der Unternehmensführung. Führe man als Manager seine Firma einfach von oben nach unten, so könne man zwar in sehr kurzer Zeit Entscheide fällen - "aber Sie haben dann furchtbar lange, um die Leute davon zu überzeugen, dass man es genau so machen muss, wie entschieden worden ist."
Bei der Team-Arbeit wende man zwar 50 bis 60 Prozent der Gesamtzeit dafür auf, um gemeinsam zum richtigen Entscheid zu finden. Die Umsetzung des Entscheides erfolge dann aber sehr schnell und sehr effektiv, weil jedermann bereits damit vertraut sei.
Nichts Gutes kann Pestalozzi den "Selbstverwirklichungsträumen" der 68er-Bewegung abgewinnen: "Diese Ich-Bezogenheit kann nicht funktionieren, und deshalb haben wir ja heute auch die grössten gesellschaftlichen Schwierigkeiten. Das steht im Widerspruch zur Schöpfungsordnung, in der jeder Mensch einen ganz bestimmten Platz hat, den er akzeptieren muss. Er kann doch nicht wegen seiner Selbstverwirklichung die anderen kaputt machen!"
"Es braucht eine regelnde Hand"
Die menschliche Erfahrung, aber auch die Kybernetik, die Wissenschaft von der Struktur komplexer Systeme, lehre nämlich, dass jedes nicht kontrollierte System unweigerlich im Chaos ende. Pestalozzi: "Es braucht immer eine regelnde Hand!" Man könne sich in guten Treuen über das paternalistische Unternehmermodell des 19. Jahrhunderts streiten. Aber: "Die Patrons haben mindestens für ihre Arbeiter gesorgt. Sie haben ihnen Häuschen gebaut oder sie besucht, wenn sie im Spital waren. Oder haben sich um sie gekümmert, wenn es ihnen sonst schlecht ging." Als Unternehmer, aber auch als Manager trage man gegenüber der Gesellschaft und den Mitarbeitenden Verantwortung, und das sei in den letzten Jahren immer mehr vergessen gegangen.
Das Gerede vom Marktwert
Um die Frage kommt man nicht herum: Was hält Hans Ulrich Pestalozzi von den doppelstelligen Millionen-Salären, die in den Chefetagen von Novartis, UBS oder Nestlé ausbezahlt werden? Solche Löhne seien unverhältnismässig und deshalb sowohl gegenüber den Mitarbeitern wie den Aktionären nicht gerechtfertigt, meint Pestalozzi.
Und für blanken Unsinn hält er das Gerede vom globalen "Marktwert" dieser Spitzenmanager: Niemand von ihnen wäre, so schätzt er, ernsthaft bereit, ihre komfortable Lebenssituation in der Schweiz gegen eine Berufstätigkeit zum Beispiel in den USA einzutauschen.
Webseite des Instituts
www.iveinstitute.org
Autor: Josef Bossart
Quelle: Kipa